Liebe Helena, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Fast so wie immer. Irgendwann in der Nacht brüllt mein Sohn Mama läuft zu mir und schlüpft unter die Bettdecke. Um spätestens sechs weckt er mich auf, indem er den Vorhang aufreißt, um mich zu blenden und zu prüfen, ob ich zerfalle. Ich kneife meine Augen zusammen, fluche in Kinderformeln und spiele einen theatralischen Vampir. Das ist sein erstes Frühstück. Mein Mann schlurft verschlafen vom Atelier herein, legt sich zu uns und ist beleidigt, weil er keinen Platz mehr findet, er quetscht sich an die Kante und beklagt sich darüber, eine Randfigur in unserer Familie zu sein. Ich mach dem Großen Kaffee und dem Kleinen Haferbrei mit Milch. Irgendwann wechseln wir uns mit der Kinderbetreuung ab. Manchmal schreiben wir die Minuten auf. Mein Sohn und ich knacken Eispfützen mit dem Fahrrad, bauen ausgeklügelte Höhlensysteme mit Decken, Sesseln und Wäscheständern und schauen uns riesige Pappebücher mit Darstellungen von Vogelarten an. Wir drapieren seine Steine- und Fossilliensammlung. Wir sind Forscher am Nordpol und sitzen an Deck unseres Eisbrechers, also auf dem breiten Fensterbrett. Während ich koche, holen meine beiden Ungestümen eine riesige Gartenfolie und bauen sich aus der provisorischen Holzbrett-Schaukel ein Piratenschiff mit Segel. Sie lehnen sich gegen den eisigen Sibirienwind auf, schreiten ihm mit Säbeln entgegen und trotzen allem Widrigen. Sie machen es sich zu nutze. Am Abend putze ich meinem Sohn die Zähne, danach erzählt ihm mein Mann eine Geschichte. Sobald die vorbei ist, lege ich mich zu ihm und warte bis er eingeschlafen ist.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Galgenhumor! Und wenn er noch so abgründig ist, der Humor ist eine gute Bewältigungsstrategie und hilft über vieles hinweg. Zumindest war es bei mir immer so. Und sonst das Übliche: Hoffnung, Trost, Ablenkung, Verdrängung und Liebe in jeder noch so kleinen Form und Geste. Bei alledem darf man diejenigen nicht vergessen, denen es nicht so gut geht wie uns. Ich habe auch in meinem nahen Umfeld Menschen, die kein Essen mehr auf den Sozialmärkten bekommen, weil diese längst geschlossen haben. Und nicht jeder hat eine Familie hinter sich, die unterstützend eingreifen kann.
Es wird jetzt ein Neubeginn sein, vor dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen werden. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?
Die Rolle der Literatur ist derzeit am ehesten die Dokumentation. Vielleicht noch das Anbieten von Blickwinkeln. Ein Neubeginn besteht im Verzicht jedes einzelnen von uns. Im Aufhören zum Beispiel. Aufhören mit Aufschieben, aufhören mit weitermachen wie bisher. Ablegen von schlechten Gewohnheiten. Das ist ungemütlich, ja. Aber notwendig und absolut unsere Pflicht, wenn wir an unsere Kinder denken, denen wir schon genug Saustall hinterlassen. Ich erinnere mich oft an Carl Popper, der sagte: „Wir wissen nichts, das ist das Erste. Deshalb sollen wir sehr bescheiden sein, das ist das Zweite. Dass wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nicht wissen, das ist das Dritte.“ Also auch ein bisschen mehr Bescheidenheit und Demut. Aber zugleich auch mehr Gelassenheit und die Bewahrung eines kritischen Blickes, bei dem man nicht nur die Lieder zuschlägt, der auch ein Blinzeln erlaubt, sodass die Augen nicht ganz austrocknen. Es ist legitim in Zeiten wie diesen, dass wir die Meinung, die wir noch am Vortag hatten, am nächsten revidieren.

Was liest Du derzeit?
Alles, was so herumliegt, die Klassiker. Jelinek, Handke, Celan, Rilke, Schiller, Camus, Goethe. Auch in Géza Csáths Bücher lese ich immer wieder hinein. Und, nachdem ja gerade mein eigenes Buch erschienen ist, bin ich auch fokussiert auf die anderen Neuerscheinungen: Birigt Birnbacher „Ich an meiner Seite“, Sara Jäger „Nach vorne, nach Süden“, Anna Herzig „Herr Rudi“, Monika Helfer „Die Bagage“, Karin Peschka „Putzt euch, tanzt, lacht“, Valerie Fritsch „Herzklappen von Johnson & Johnson“, Leif Randt „Allegro Pastell“, Lutz Seiler „Stern 111“ usw.
Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?
Der Besorgte kümmert sich um den Geschundenen. Und der Geschundene um den Geschändeten. Der Geschädigte flickt den Verwundeten. Der Vergessene lässt den Besiegten siegen und der Besiegte hilft dem in die Knie Gezwungenen wieder auf. Die Verwaiste heiratet den Verwitweten. Der Fehlgeleitete zeigt dem Entrückten den Weg. Der Geächtete arbeitet für den Geknechteten und der Gescheiterte vergipst den Gebrochenen. Der Gezeichnete glättet den Vernarbten. Der Vernarbte krönt den Gefallenen. Der Entrechtete küsst den Geächteten. Die Gelähmten sprechen über Trost. Der Beschädigte salbt den Ruinierten. Der Vernichtete findet den Verlorenen und der Verlorene verewigt den Vernichteten. Der Ausgeschlossene verbindet die Entkoppelten. Der Gehörlose führt den Blinden. Der Blinde erzählt dem Verstummten und der Verstummte findet Besänftigung im geschriebenen Wort. Der Erniedrigte beschenkt den Enteigneten und der Enteignete erbt ein Land, in dem die Entmachteten Könige sind. Und die Vertriebenen und Verbannten finden Zuflucht im Gespräch, jeder ein Stück Heimat in einem anderen Dialekt. Und den Gescheiterten gehört das Wort. Wörter werden zu ihren Familien, und die Sprache wird zu ihrer Heimat, ihrem wichtigsten Gut.
(Helena Adler, „Die Infantin trägt den Scheitel links“, Jung und Jung Verlag)
Vielen Dank für das Interview liebe Helena, viel Freude und Erfolg für Deinen großartigen aktuellen Roman und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Helena Adler, Schriftstellerin
Aktueller Roman von Helena Adler: „Die Infantin trägt den Scheitel links“, Jung und Jung Verlag
29.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Foto_Eva Mrazek
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